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Ist Armut ein Grund für den Hass der
Moslems?
Ursachen des Terrors: Mythos und Realität. Eine Spurensuche nach
den Motiven der Anschläge vom 11. September
Von Walter LaqueurWashington - Kein anderes Thema
ist in den letzten Wochen so breit und ausgiebig diskutiert worden wie
die Ursachen und Wurzeln des Terrorismus. Im Internet findet man 250 000
diesbezügliche Treffer. Der Bundespräsident hat darüber gesprochen, der
Papst und der Generalsekretär der Vereinten Nationen - praktisch jeder
Staatsmann und viele Intellektuelle einschließlich einiger
Persönlichkeiten, deren Stellungnahme überrascht. Der iranische
Premierminister etwa sagte, dass der Terrorismus wuchere, "weil die
Ethik aus der Politik herausgehalten wird". Wer könnte dieser hehren
Erklärung widersprechen? Oberst Gaddafi, in der Vergangenheit eine
Autorität im Bereich des Terrorismus, hat ebenfalls eine Rede über das
Thema gehalten. Aber nach einem viel versprechenden Anfang widmete er
den Großteil seiner Zeit der Gentechnologie (er ist dafür).
Eine große Anzahl von Ursachen wurde genannt - Globalisierung und
Antiglobalisierung, amerikanische Arroganz und Amerikas Verhalten in
Nicaragua und anderswo. Der indische Premierminister gab in erster Linie
Pakistan die Schuld, die arabischen Außenminister Israel. Einige
britische Exzentriker meinten, es sei die unvermeidliche Konsequenz
davon, dass die Kolonialmächte ihre Herrschaft viel zu früh aufgegeben
hätten. Und irgendein christlich-fundamentalistischer Prediger in den
Vereinigten Staaten argumentierte, dass es die Vergeltung für
legalisierte Abtreibungen, sexuelle Promiskuität und die freizügige
Gesellschaft insgesamt sei. Doch abgesehen von solchen eher
verschrobenen Ansichten - und es gab eine regelrechte Parade davon -
wurde keine "Ursache" für den Terrorismus häufiger genannt als Armut,
Hunger und Krankheit.
Es gibt unzählige moralische und politische Gründe dafür, die derzeitige
Verteilung von Reichtum unter und in den Nationen als ungerecht und dem
Frieden und Wohlstand nicht zuträglich zu betrachten. Armut sorgt für
politische Unruhe und soziale Instabilität. Aber erzeugt sie
Terrorismus? Niemand, der sich ernsthaft mit Terrorismus beschäftigt,
hat bisher eine eindeutige Wechselbeziehung zwischen Armut und
Terrorismus festgestellt, weder in der Vergangenheit noch in der
Gegenwart. Nicht nur weil Osama Bin Laden und sein Hauptberater Zawahiri
aus wohlhabenden Familien stammen (genau wie der berüchtigte Terrorist
Carlos "der Schakal" und andere bekannte Personen); denn man könnte
immer argumentieren, dass Bewegungen, die für die Rechte und Interessen
der Armen kämpfen, häufig von Mitgliedern gesellschaftlicher Eliten
angeführt werden. Marx kam nicht aus einer armen Familie, Engels besaß
eine Fabrik, und der Prophet Mohammed war nach seiner Heirat mit einer
wohlhabenden Witwe auch nicht arm dran. Die entscheidende Frage ist, wo
Terrorismus vorkommt und wo nicht. Unter den 49 Ländern, die von der UNO
als die Ärmsten der Armen bezeichnet wurden, hat der Terrorismus nur in
zweien eine gewisse Rolle gespielt - im Sudan und in Afghanistan, und in
beiden Fällen war es kein einheimisches Produkt, sondern ein
ausländischer Import. Terroristen erkauften sich ein Land.
Manchmal kommt Terrorismus tatsächlich in den ärmeren Regionen eines
Landes vor, in Peru beispielsweise oder in Nordirland, einem der
vernachlässigten Teile des Vereinten Königreichs. Aber genauso tritt er
in wohlhabenderen Gegenden auf - im Baskenland Spaniens, eher im Norden
als im Süden Italiens, im Punjab in Indien, in den Tamilengegenden von
Sri Lanka. Sicher, diejenigen, die den extremeren Flügeln des
palästinensischen Terrorismus wie der Hamas und dem Dschihad beigetreten
sind, kamen aus weniger wohlhabenderen Teilen der Gesellschaft, und das
Gleiche trifft auf die libanesische Hisbollah zu. Aber unter den
palästinensischen Selbstmordattentätern war, soweit man das ermitteln
kann, keiner, der unter Hunger gelitten hätte. Das ist auch bezüglich
der sogar noch größeren Anzahl von Selbstmordattentätern in Sri Lanka
so. Was die terroristischen Gruppen betrifft, die in der letzten Zeit am
aktivsten waren und die das Rückrat von Al Qaida darstellen, nämlich die
ägyptische (Terrororganisation) Dschamaat Al Islamiya und die
Saudi-Araber, die an den Anschlägen vom 11. September beteiligt waren,
so kommen sie fast ohne Ausnahme aus Familien der Mittelschicht. Einige
von ihnen kommen aus wohlhabenden Verhältnissen, ihre Eltern sind
Kaufleute und Bankiers, Ärzte, Anwälte oder höhere Beamte.
Es ist vollkommen richtig, dass es in kleinen und sehr wohlhabenden
Ländern selten, wenn überhaupt zu Terrorismus kommt. Aber die meisten
Länder fallen nicht in diese glückselige Kategorie, und es ist nicht
wahrscheinlich, dass sie einen solchen Status in der vorhersehbaren
Zukunft erlangen werden. Darüber hinaus gibt es keinerlei Beweise dafür,
dass Armut für das Vorkommen von Terrorismus eine Schlüsselrolle
spielt.
Eine zweite Ursache für die Verbreitung des Terrorismus, die dieser Tage
häufig vorgebracht wird, ist der berühmte "Konflikt der Kulturen" (und
unser Unvermögen, ihn zu verhindern). Es mag ein Körnchen Wahrheit in
dieser These liegen, aber die empirische Beweislage ist weit davon
entfernt, überzeugend zu sein. Ein Überblick über Kriege, Bürgerkriege
und ähnliche Konflikte in der heutigen Welt zeigt, dass es tatsächlich
eine weit größere Häufigkeit von Gewalt und Aggression in islamischen
Gesellschaften gibt als in den meisten anderen. Ein Leben in der
Minderheit in nichtislamischen Staaten fällt ihnen schwer - von den
Philippinen bis Westeuropa. Und es fällt ihnen genauso schwer, ihre
eigenen Minderheiten fair zu behandeln - die Berber in Algerien, die
Kurden, die Kopten in Ägypten, die südlichen Stämme im Sudan, die Bahai
im Iran, die Christen in Osttimor und so weiter.
In einigen Fällen waren die Moslems die verfolgte Seite, man muss nur an
Tschetschenien denken, an Bosnien, Kaschmir oder die besetzten Gebiete
des Westjordanlandes. Aber in dem Moment, als die Tschetschenen und die
Albaner die Gelegenheit hatten, wandelten sie sich von Opfern der
Aggression zu Aggressoren. Die moslemischen Einwohner Kaschmirs wollen
nicht nur einen eigenen, unabhängigen Staat, sie wollen alle
Nichtmoslems ausweisen, und die radikalen Palästinenser haben klar
gemacht, dass sie nicht nur die 1967 von Israel besetzten Gebiete
befreien, sondern Israel zerstören wollen.
Es ist allerdings angesichts all dieser Konflikte und auch angesichts
der Feindseligkeit gegenüber dem Westen sehr unwahrscheinlich, dass die
islamischen Länder gemeinsame Sache machen werden gegen den Westen, der
auch keine einheitliche Front bildet. Der Großteil der Aggression in der
islamischen Welt richtet sich gegeneinander. Der bei weitem blutigste
Krieg war der des Irak gegen den Iran (1980 bis 1988), der fast eine
Million Opfer forderte. Die verheerendste Terrorkampagne war die, die
von algerischen Terroristen gegen ihr eigenes Land geführt wurde -
ungefähr 70 000 Menschen starben. Es gibt eine Organisation Islamischer
Staaten (OIC), die mehr als 50 Mitglieder zählt. In ihrer Geschichte ist
es dieser Organisation niemals gelungen, einen Konflikt zwischen ihren
Mitgliedern zu lösen. Die Elemente der Uneinigkeit in der islamischen
Welt sind stärker als die, die zu gemeinsamem Handeln führen. Die
islamischen Terroristen der Art Bin Ladens behaupten, dass sie nach
einheitlichem Handeln streben (daher ihr Kampf gegen den arabischen
Nationalismus, den sie als westlichen Import betrachten). Aber es sind
genau diese islamischen Radikalen, die glauben (ihrem frühen Guru Sayed
Qutb folgend), dass sich ihr Kampf zunächst gegen die derzeitigen
Regierungen islamischer Staaten richten muss, die allesamt Ungläubige
und Abtrünnige seien. Die einzige gemeinsame Handlung auf Seiten der
OIC, die man in absehbarer Zukunft ernsthaft erwarten kann, ist es, in
den Vereinten Nationen als Block abzustimmen.
Die am dritthäufigsten genannte Ursache für den Terrorismus ist Israel.
Wie ein führender Orientalist vor vielen Jahren sarkastisch sagte: Wenn
es Israel nicht gäbe, würden Geschäftsleute große Verträge bekommen,
Generäle und Admirale militärische Stützpunkte und Missionare
Konvertiten. Jetzt könnte man hinzufügen: Und es würde keinen
Terrorismus geben. Israel hat eine Menge Kritiker und Feinde, und dieses
Argument hat heutzutage viele Befürworter. Es stimmt, dass die
israelische Vorherrschaft über heilige Stätten des Islam und der
Widerwille, die Kontrolle gemeinsam auszuüben, tiefe Verärgerung in der
arabischen Welt hervorgerufen hat. Genauso wahr ist es, dass Israel die
Gebiete vor langer Zeit hätte aufgeben sollen - sich selbst zuliebe,
denn kein demokratisches Land kann auf Dauer über so viele unfreiwillige
Bürger herrschen und dabei seinen demokratischen Charakter erhalten. Je
länger diese Entscheidung hinausgeschoben wird, desto schmerzhafter wird
der Schritt sein. Aber war es nicht Israel, das unter Ehud Barak die
Rückgabe von 95 Prozent der Gebiete anbot, und war es nicht Arafat, der
das Angebot ablehnte? Es hätte trotzdem durchgeführt werden sollen,
notfalls einseitig.
Israel ist für einige seiner Nachbarn ein entscheidendes Problem, für
die islamische Welt im Großen und Ganzen aber ist Israel keine Ursache
für islamischen Zorn, sondern ein Katalysator und ein Symbol. Es wird
keinen Unterschied machen in Bezug auf die große Mehrheit derzeitiger
bewaffneter Konflikte, sei es in Nordafrika oder Nigeria, in
Zentralasien, Pakistan und den Philippinen, nicht einmal auf der
arabischen Halbinsel. Es wird keine Auswirkung haben auf die Situation
im Kaukasus, im Iran und Irak und auf die Beziehungen zwischen ihnen. Es
wird die Wut unter radikalen Moslems in Westeuropa nicht reduzieren. Bin
Laden und die anderen islamistischen Terroristen haben größere Fische zu
fangen als Israel, und sie werden weiterhin auf die Zerstörung Amerikas
und des Westens abzielen. Israel ist ein Punkt auf ihrer Tagesordnung,
aber für die meisten von ihnen ist es nicht der Hauptpunkt.
Als der moderne Terrorismus in Form des Anarchismus erstmals auf dem
europäischen Schauplatz erschien, behauptete Cesare Lombroso, der
Begründer der modernen Kriminologie, dass er den Schlüssel zu diesem
neuen, alarmierenden und bedrohlichen Phänomen gefunden habe. Die
Anarchisten, argumentierte er, litten unter Avitaminose. So weit man
weiß, haben viele Anarchisten möglicherweise unter Vitaminmangel
gelitten, aber das war bei vielen ihrer Zeitgenossen ebenso. Viele der
derzeitig beliebten Theorien über die angeblich realen Ursachen und
Wurzeln des Terrorismus sind nur wenig realistischer als Lombrosos
Theorien vor über 100 Jahren.
Aber es muss Ursachen für den Terrorismus geben, ex nihilo nihil fit,
nichts kommt von nichts. Die Ursachen des Terrorismus, um es auf den
breitmöglichsten Nenner zu bringen, sind die Terroristen. Was treibt sie
dazu, so zu handeln, wie sie es tun? Es ist ein Fehler zu glauben, dass
das einzig (oder hauptsächlich) von "objektiven" sozialen, ökonomischen
und politischen Bedingungen abhängt. Was eine Person zum Terroristen
macht und eine andere mit gleich starken religiösen oder politischen
Überzeugungen zu einem Politiker oder einem aggressiven Geschäftsmann,
mag wohl mit Religion und kulturellen Traditionen zu tun haben, aber
vielleicht noch mehr mit kollektiver und individueller Psychologie. Es
gibt vorläufige Antworten, und wir werden uns frühzeitig mit ihnen
auseinander setzen.
Der Autor ist Direktor am Washingtoner Institut für Strategische und
Internationale Studien.
Aus dem Englischen von Pascal Edelmann.
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