Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg 4/2002 (27. Januar), Seite 4
Absolutheitsansprüche auf dem Prüfstand
«Religionen gemeinsam gegen Gewalt» beim Stuttgarter Weltreligionstag
Von Andreas
Rössler
«Religionen
gemeinsam gegen Gewalt», das Thema des Stuttgarter «Weltreligionstags» am 20. Januar,
ist nach dem 11. September 2001 besonders aktuell, da für
die Terroranschläge in den USA auch eine (islamistische) religiöse
Begründung gegeben wurde. Wo liegen in den Religionen die friedensstiftenden
und wo die gewalttätigen, zerstörerischen Momente? Können
die Religionen wirksam gegen «Gewalt» angehen? Organisiert
wurde der «Weltreligionstag» von Mitgliedern der Bahá'i-Religion.
Eine Vorgabe
für den Weltreligionstag war die «Weimarer Erklärung» des «Interkulturellen
Rats in Deutschland» vom 2. Oktober
2001: «Lasst euch von Terroristen nicht instrumentalisieren. Wirklich
religiöse Menschen lehnen Gewalttaten ab und sind keine Fanatiker.
Nehmt ernst, was unsere Religionen gebieten und was Grundgesetz und Menschenrechte
fordern: Schützt den Fremden!»
Diese nicht
unumstrittene These, alle klassische Religionen seien in ihrem Ursprung
und ihren maßgeblichen Urkunden friedliebend, vertrat in dem Stuttgarter
Podiumsgespräch Naadem Elyas, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime
in Deutschland: «Die erste Phase der Religion ist friedfertig. Hier hat
sich die Religion in ihrem wahren Wesen gezeigt. In ihrem Kern sind die
Religionen nicht gewalttätig, sondern wollen den Frieden.»
Unter dieser
Voraussetzung geht die Unterscheidung von «wahrer» und «falscher
Religion» jedenfalls auch quer durch die Religionen. Auch wer für
die eigene Religion einen Absolutheitsanspruch vertritt und alle anderen
Religionen in ihrem Verständnis von Gott, Mensch, Welt und Erlösung
für verkehrt hält, muss dann doch noch einmal unterscheiden.
Es gab und gibt eben in allen Religionen Verstöße gegen die
Menschenwürde, und es finden sich in allen Weltreligionen Beispiele
von Gerechtigkeit und Nächstenliebe.
Christopher
Sprung vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá'i kritisierte religiöse
Absolutheitsansprüche: «Nach dem Glauben der Bahá'i gilt
es heute, alle Absolutheitsansprüche über Bord zu werfen und
unsere gemeinsame Quelle, den gemeinsamen Ursprung aller Religionen zu
erkennen und an ihn zu glauben.» Das heiße aber, jede andere
Religion nicht nur zu «dulden», «sondern an ihren ebenso gleichrangigen
Wahrheitskern, an ihre ebenso gleichwertige göttliche Quelle, zu
glauben.» Es gebe eine «fortschreitende Offenbarung» Gottes.
Der Tübinger
katholische Theologe Professor Urs Baumann nannte den Anspruch, nur die
eigene Religion sei wahr, eine Quelle für Gewalttätigkeiten,
vor allem wenn sich dieser Anspruch noch in die Politik umsetzt wie 380,
als das katholische Christentum zur einzigen im römischen Reich zulässigen
und für alle verbindlichen Religion erklärt wurde. Religion
werde zur Unterdrückung von Menschen missbraucht, wenn sie in den
Dienst der Machtpolitik gestellt werde. Baumann hält es für
berechtigt, die eigene Religion «als die beste für sich selbst» zu verstehen, aber
Andersgläubige hätten eben für sich
selbst dasselbe Recht. Religionen seien wie Landkarten. Es gebe unterschiedliche
Landkarten, aber alle wollten zum Ziel führen. Ähnlich äußerte
sich Meinhard Tenné, der frühere Vorsitzende der Israelitischen
Religionsgemeinschaft Württembergs: «Jeder Glaubende muss glauben,
die Wahrheit gefunden zu haben, darf diese aber nicht anderen überstülpen.»
Der buddhistische
Meditationslehrer Paul Köppler griff das Bild von der Landkarte auf:
«Die Landkarte ist noch nicht das Land.» Keine Religion sei im Besitz
der Wahrheit. Auch die Gläubigen seien «Unwissende». Für
religiös eingestellte Menschen sei «Bescheidenheit» angebracht.
Religion sei in erster Linie ein Weg, der zu begehen ist.
Eine Gegenposition
dazu bezog Nadeem Elyas. Religiöser Glaube bedeute eine feste Überzeugung:
«Ich habe die Wahrheit gefunden.» Die Existenz Gottes des
Schöpfers sei «absolute Wahrheit». Immerhin: Auch wer
wie die Buddhisten keinen Schöpfergott anerkenne, strebe als religiöser
Mensch doch die absolute Wirklichkeit an. «Die Gottesbilder sind
verschieden, aber der eine Gott ist der Gott aller.» Dass die einzelnen
Gläubigen unter einer unausweichlichen Verantwortung vor der absoluten
Instanz stehen, war nicht umstritten. Elyas wies auf die Kraft hin, welche
die Religion ihren Gläubigen dafür vermittle, um gegen Ungerechtigkeit
und die Bevormundung der Völker durch andere Völker anzugehen.
Ähnlich sagte der katholische Theologe Johannes Frühbauer von
der Tübinger «Stiftung Weltethos», die religiöse
Überzeugung motiviere zum ethischen Handeln. «Versöhnung» sei eine ureigene Sache
der Religionen, und zwar «im Bewusstsein
der einen Menschheit». Tenné betonte, alle Menschen seien
zum «Ebenbild Gottes» geschaffen und vor Gott gleich. Gerade
deshalb sei es nötig, «dem Frieden nachzujagen» (Psalm
34,15) und dies nicht dem Staat zu überlassen. Gemeinsam könnten
die Gläubigen der Weltreligionen einen Druck auf die Machthaber ausüben,
Gerechtigkeit zu schaffen. Tennés Grundsatz «Religionen sind
länderübergreifend, daher müssen wir aufhören, sie
einzelnen Ländern zuzuordnen» würde etwa bedeuten, dass
die gegenwärtige Politik des Staates Israel und die jüdische
Religion zweierlei sind.
Dass Gewalt
nicht durch neue Gewalt gelöst werden könne, sei ein «Lebensgesetz»,
sagte der Buddhist Köppler. Dauerhafte Konfliktlösung erfordere
eine «friedliche Haltung».
Die Bahá'i
Die Bahá'i-Religion
ist die jüngste Weltreligion, entstanden um 1844 bis 1863 in Persien.
Religionsgeschichtlich gesehen eine Verselbständigung aus dem schiitischen
Islam, sind die Bahá'i monotheistisch und glauben, Gott offenbare
sich in allen großen Religionen. Sie gehen von der «Einheit
der Menschheit» aus und fordern eine «Weltordnung».
Ihr Religionsgründer Bahá'u'lláh (1817-1892) verstand
sich als bislang letzten großen Offenbarer. Er lebte ab 1868 in
Akka in der Verbannung. In der Leitung der Bahá'i folgte ihm sein
Sohn 'Abdu'l-Bahá (1844-1921). Seit 1963 steht das neunköpfige
«Universale Haus der Gerechtigkeit» in Haifa an der Spitze.
Weltweit umfasst die Bahá'i-Religion etwa 5-6 Millionen erwachsene
Gläubige. Hauptverbreitungsgebiete sind der Iran (dort sind sie aber
verboten und werden teilweise blutig verfolgt), Indien, Afrika und die
USA. In Deutschland haben sie heute etwa 6000 Mitglieder.
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