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Samstag, 16. Februar 2002 Berlin, 16:16 Uhr
Ist Armut ein Grund für den Hass der Moslems?
Ursachen des Terrors: Mythos und Realität. Eine Spurensuche nach den Motiven der Anschläge vom 11.
September
Von Walter Laqueur Washington - Kein anderes Thema ist in den letzten Wochen so breit und ausgiebig
diskutiert worden wie die Ursachen und Wurzeln des Terrorismus. Im Internet findet man 250 000
diesbezügliche Treffer. Der Bundespräsident hat darüber gesprochen, der Papst und der Generalsekretär
der Vereinten Nationen - praktisch jeder Staatsmann und viele Intellektuelle einschließlich einiger
Persönlichkeiten, deren Stellungnahme überrascht. Der iranische Premierminister etwa sagte, dass der
Terrorismus wuchere, "weil die Ethik aus der Politik herausgehalten wird". Wer könnte dieser hehren
Erklärung widersprechen? Oberst Gaddafi, in der Vergangenheit eine Autorität im Bereich des
Terrorismus, hat ebenfalls eine Rede über das Thema gehalten. Aber nach einem viel versprechenden
Anfang widmete er den Großteil seiner Zeit der Gentechnologie (er ist dafür).
Eine große Anzahl von Ursachen wurde genannt - Globalisierung und Antiglobalisierung,
amerikanische Arroganz und Amerikas Verhalten in Nicaragua und anderswo. Der indische Premierminister
gab in erster Linie Pakistan die Schuld, die arabischen Außenminister Israel. Einige britische
Exzentriker meinten, es sei die unvermeidliche Konsequenz davon, dass die Kolonialmächte ihre
Herrschaft viel zu früh aufgegeben hätten. Und irgendein christlich-fundamentalistischer Prediger in
den Vereinigten Staaten argumentierte, dass es die Vergeltung für legalisierte Abtreibungen, sexuelle
Promiskuität und die freizügige Gesellschaft insgesamt sei. Doch abgesehen von solchen eher
verschrobenen Ansichten - und es gab eine regelrechte Parade davon - wurde keine "Ursache" für den
Terrorismus häufiger genannt als Armut, Hunger und Krankheit.
Es gibt unzählige moralische und politische Gründe dafür, die derzeitige Verteilung von
Reichtum unter und in den Nationen als ungerecht und dem Frieden und Wohlstand nicht zuträglich zu
betrachten. Armut sorgt für politische Unruhe und soziale Instabilität. Aber erzeugt sie Terrorismus?
Niemand, der sich ernsthaft mit Terrorismus beschäftigt, hat bisher eine eindeutige Wechselbeziehung
zwischen Armut und Terrorismus festgestellt, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Nicht
nur weil Osama Bin Laden und sein Hauptberater Zawahiri aus wohlhabenden Familien stammen (genau wie
der berüchtigte Terrorist Carlos "der Schakal" und andere bekannte Personen); denn man könnte immer
argumentieren, dass Bewegungen, die für die Rechte und Interessen der Armen kämpfen, häufig von
Mitgliedern gesellschaftlicher Eliten angeführt werden. Marx kam nicht aus einer armen Familie, Engels
besaß eine Fabrik, und der Prophet Mohammed war nach seiner Heirat mit einer wohlhabenden Witwe auch
nicht arm dran. Die entscheidende Frage ist, wo Terrorismus vorkommt und wo nicht. Unter den 49
Ländern, die von der UNO als die Ärmsten der Armen bezeichnet wurden, hat der Terrorismus nur in zweien
eine gewisse Rolle gespielt - im Sudan und in Afghanistan, und in beiden Fällen war es kein
einheimisches Produkt, sondern ein ausländischer Import. Terroristen erkauften sich ein Land.
Manchmal kommt Terrorismus tatsächlich in den ärmeren Regionen eines Landes vor, in Peru
beispielsweise oder in Nordirland, einem der vernachlässigten Teile des Vereinten Königreichs. Aber
genauso tritt er in wohlhabenderen Gegenden auf - im Baskenland Spaniens, eher im Norden als im Süden
Italiens, im Punjab in Indien, in den Tamilengegenden von Sri Lanka. Sicher, diejenigen, die den
extremeren Flügeln des palästinensischen Terrorismus wie der Hamas und dem Dschihad beigetreten sind,
kamen aus weniger wohlhabenderen Teilen der Gesellschaft, und das Gleiche trifft auf die libanesische
Hisbollah zu. Aber unter den palästinensischen Selbstmordattentätern war, soweit man das ermitteln
kann, keiner, der unter Hunger gelitten hätte. Das ist auch bezüglich der sogar noch größeren Anzahl
von Selbstmordattentätern in Sri Lanka so. Was die terroristischen Gruppen betrifft, die in der letzten
Zeit am aktivsten waren und die das Rückrat von Al Qaida darstellen, nämlich die ägyptische
(Terrororganisation) Dschamaat Al Islamiya und die Saudi-Araber, die an den Anschlägen vom 11.
September beteiligt waren, so kommen sie fast ohne Ausnahme aus Familien der Mittelschicht. Einige von
ihnen kommen aus wohlhabenden Verhältnissen, ihre Eltern sind Kaufleute und Bankiers, Ärzte, Anwälte
oder höhere Beamte.
Es ist vollkommen richtig, dass es in kleinen und sehr wohlhabenden Ländern selten, wenn
überhaupt zu Terrorismus kommt. Aber die meisten Länder fallen nicht in diese glückselige Kategorie,
und es ist nicht wahrscheinlich, dass sie einen solchen Status in der vorhersehbaren Zukunft erlangen
werden. Darüber hinaus gibt es keinerlei Beweise dafür, dass Armut für das Vorkommen von Terrorismus
eine Schlüsselrolle spielt.
Eine zweite Ursache für die Verbreitung des Terrorismus, die dieser Tage häufig
vorgebracht wird, ist der berühmte "Konflikt der Kulturen" (und unser Unvermögen, ihn zu verhindern).
Es mag ein Körnchen Wahrheit in dieser These liegen, aber die empirische Beweislage ist weit davon
entfernt, überzeugend zu sein. Ein Überblick über Kriege, Bürgerkriege und ähnliche Konflikte in der
heutigen Welt zeigt, dass es tatsächlich eine weit größere Häufigkeit von Gewalt und Aggression in
islamischen Gesellschaften gibt als in den meisten anderen. Ein Leben in der Minderheit in
nichtislamischen Staaten fällt ihnen schwer - von den Philippinen bis Westeuropa. Und es fällt ihnen
genauso schwer, ihre eigenen Minderheiten fair zu behandeln - die Berber in Algerien, die Kurden, die
Kopten in Ägypten, die südlichen Stämme im Sudan, die Bahai im Iran, die Christen in Osttimor und so
weiter.
In einigen Fällen waren die Moslems die verfolgte Seite, man muss nur an Tschetschenien
denken, an Bosnien, Kaschmir oder die besetzten Gebiete des Westjordanlandes. Aber in dem Moment, als
die Tschetschenen und die Albaner die Gelegenheit hatten, wandelten sie sich von Opfern der Aggression
zu Aggressoren. Die moslemischen Einwohner Kaschmirs wollen nicht nur einen eigenen, unabhängigen
Staat, sie wollen alle Nichtmoslems ausweisen, und die radikalen Palästinenser haben klar gemacht, dass
sie nicht nur die 1967 von Israel besetzten Gebiete befreien, sondern Israel zerstören wollen.
Es ist allerdings angesichts all dieser Konflikte und auch angesichts der Feindseligkeit
gegenüber dem Westen sehr unwahrscheinlich, dass die islamischen Länder gemeinsame Sache machen werden
gegen den Westen, der auch keine einheitliche Front bildet. Der Großteil der Aggression in der
islamischen Welt richtet sich gegeneinander. Der bei weitem blutigste Krieg war der des Irak gegen den
Iran (1980 bis 1988), der fast eine Million Opfer forderte. Die verheerendste Terrorkampagne war die,
die von algerischen Terroristen gegen ihr eigenes Land geführt wurde - ungefähr 70 000 Menschen
starben. Es gibt eine Organisation Islamischer Staaten (OIC), die mehr als 50 Mitglieder zählt. In
ihrer Geschichte ist es dieser Organisation niemals gelungen, einen Konflikt zwischen ihren Mitgliedern
zu lösen. Die Elemente der Uneinigkeit in der islamischen Welt sind stärker als die, die zu gemeinsamem
Handeln führen. Die islamischen Terroristen der Art Bin Ladens behaupten, dass sie nach einheitlichem
Handeln streben (daher ihr Kampf gegen den arabischen Nationalismus, den sie als westlichen Import
betrachten). Aber es sind genau diese islamischen Radikalen, die glauben (ihrem frühen Guru Sayed Qutb
folgend), dass sich ihr Kampf zunächst gegen die derzeitigen Regierungen islamischer Staaten richten
muss, die allesamt Ungläubige und Abtrünnige seien. Die einzige gemeinsame Handlung auf Seiten der OIC,
die man in absehbarer Zukunft ernsthaft erwarten kann, ist es, in den Vereinten Nationen als Block
abzustimmen.
Die am dritthäufigsten genannte Ursache für den Terrorismus ist Israel. Wie ein
führender Orientalist vor vielen Jahren sarkastisch sagte: Wenn es Israel nicht gäbe, würden
Geschäftsleute große Verträge bekommen, Generäle und Admirale militärische Stützpunkte und Missionare
Konvertiten. Jetzt könnte man hinzufügen: Und es würde keinen Terrorismus geben. Israel hat eine Menge
Kritiker und Feinde, und dieses Argument hat heutzutage viele Befürworter. Es stimmt, dass die
israelische Vorherrschaft über heilige Stätten des Islam und der Widerwille, die Kontrolle gemeinsam
auszuüben, tiefe Verärgerung in der arabischen Welt hervorgerufen hat. Genauso wahr ist es, dass Israel
die Gebiete vor langer Zeit hätte aufgeben sollen - sich selbst zuliebe, denn kein demokratisches Land
kann auf Dauer über so viele unfreiwillige Bürger herrschen und dabei seinen demokratischen Charakter
erhalten. Je länger diese Entscheidung hinausgeschoben wird, desto schmerzhafter wird der Schritt sein.
Aber war es nicht Israel, das unter Ehud Barak die Rückgabe von 95 Prozent der Gebiete anbot, und war
es nicht Arafat, der das Angebot ablehnte? Es hätte trotzdem durchgeführt werden sollen, notfalls
einseitig.
Israel ist für einige seiner Nachbarn ein entscheidendes Problem, für die islamische
Welt im Großen und Ganzen aber ist Israel keine Ursache für islamischen Zorn, sondern ein Katalysator
und ein Symbol. Es wird keinen Unterschied machen in Bezug auf die große Mehrheit derzeitiger
bewaffneter Konflikte, sei es in Nordafrika oder Nigeria, in Zentralasien, Pakistan und den
Philippinen, nicht einmal auf der arabischen Halbinsel. Es wird keine Auswirkung haben auf die
Situation im Kaukasus, im Iran und Irak und auf die Beziehungen zwischen ihnen. Es wird die Wut unter
radikalen Moslems in Westeuropa nicht reduzieren. Bin Laden und die anderen islamistischen Terroristen
haben größere Fische zu fangen als Israel, und sie werden weiterhin auf die Zerstörung Amerikas und des
Westens abzielen. Israel ist ein Punkt auf ihrer Tagesordnung, aber für die meisten von ihnen ist es
nicht der Hauptpunkt.
Als der moderne Terrorismus in Form des Anarchismus erstmals auf dem europäischen
Schauplatz erschien, behauptete Cesare Lombroso, der Begründer der modernen Kriminologie, dass er den
Schlüssel zu diesem neuen, alarmierenden und bedrohlichen Phänomen gefunden habe. Die Anarchisten,
argumentierte er, litten unter Avitaminose. So weit man weiß, haben viele Anarchisten möglicherweise
unter Vitaminmangel gelitten, aber das war bei vielen ihrer Zeitgenossen ebenso. Viele der derzeitig
beliebten Theorien über die angeblich realen Ursachen und Wurzeln des Terrorismus sind nur wenig
realistischer als Lombrosos Theorien vor über 100 Jahren.
Aber es muss Ursachen für den Terrorismus geben, ex nihilo nihil fit, nichts kommt von
nichts. Die Ursachen des Terrorismus, um es auf den breitmöglichsten Nenner zu bringen, sind die
Terroristen. Was treibt sie dazu, so zu handeln, wie sie es tun? Es ist ein Fehler zu glauben, dass das
einzig (oder hauptsächlich) von "objektiven" sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen
abhängt. Was eine Person zum Terroristen macht und eine andere mit gleich starken religiösen oder
politischen Überzeugungen zu einem Politiker oder einem aggressiven Geschäftsmann, mag wohl mit
Religion und kulturellen Traditionen zu tun haben, aber vielleicht noch mehr mit kollektiver und
individueller Psychologie. Es gibt vorläufige Antworten, und wir werden uns frühzeitig mit ihnen
auseinander setzen.
Der Autor ist Direktor am Washingtoner Institut für Strategische und Internationale Studien.
Aus dem Englischen von Pascal Edelmann.
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