O. I. Shiraz, im April
Ein grimmiger Khomeiny blickt auf die Kathedrale des heiligen Sergius
in Teheran herab, den Sitz des Primas der armenischen Kirche in Iran, Sebouh Sarkissian. Das riesige Wandbild stehe in
keinem Zusammenhang mit seinem Gotteshaus, beteuert der Bischof, sondern befinde sich zufällig dort, weil das hohe
Nachbargebäude dem Propagandaministerium gehöre; man solle daraus keinen falschen Schluss ziehen. «Iran ist
keine Hölle.Hier sind wir im Himmel im Vergleich zu Saudiarabien oder Kuwait.» Der Prälat hebt hervor,dass
seine Glaubensgemeinschaft in der Hauptstadt 23 eigene Schulen, 5 Kindergärten und 27 gemeinnützige Organisationen
betreiben kann. Den Armeniern wird auch die Befolgung des eigenes Familien- und Erbrechts zugestanden.
Zwei Armenier im Parlament
In Teheran leben rund 80 000 Armenier, und ihnen stehen sieben
orthodoxe Kirchen offen. Vor Khomeinys Revolution war die armenische Gemeinschaft in der Hauptstadt etwa doppelt so gross.
Bischof Sarkissian bedauert die Emigration, die jetzt am Abflachen sei. Offiziell umfasst die armenische Minderheit in
Iran 150 000 Mitglieder. Tatsächlich dürften es weniger sein, doch der Bischof hat kein Interesse, dies zu
bestätigen, denn das könnte einen der beiden den Armeniern vorbehaltenen Parlamentssitze gefährden. Die
beiden Abgeordneten, die dem reformerischen Flügel des Majlis zugerechnet werden, sind Mitglieder der offiziell nicht
registrierten Armenischen Revolutionären Partei.
Diese beiden Abgeordneten im Parlament stehen kurz vor einem
Durchbruch, den sie nicht nur für die allgemein wirtschaftlich gut gestellten Armenier erkämpft haben wollen,
sondern für alle Angehörigen nichtislamischer Minderheiten. Denn in der Praxis bleibt die
verfassungsmässig zugesicherte Gleichstellung aller Gläubigen oft Theorie. Der grösste Stein des
Anstosses ist die unterschiedliche Bemessung des sogenannten Blutgeldes, das entrichtet werden muss, wenn jemand
getötet wird, zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall. Während dieses Blutgeld bei muslimischen Opfern in der Regel
rund 15 000 Dollarausmacht, steht den Angehörigen eines christlichen Verstorbenen die Hälfte oder weniger zu
(dasselbe gilt auch, wenn die Opfer, egal welchen Glaubens, weiblich sind). Bischof Sarkissian ist optimistisch, dass das
Gesetz, das diese Ungerechtigkeit aufhebt, angenommen wird, dennohne die vorherige Sondierung beim Religionsführer
Khamenei wäre es seiner Ansicht nach gar nicht so weit vorangetrieben worden.
Die Armenier des Schah Abbas
Ein Ende der Diskriminierung bei Entschädigungszahlungen würde
auch von armenischenGesprächspartnern in Isfahan als wichtiges positives Zeichen verstanden. Für viele
Gemeindemitglieder war ihre mindere Stellung mit ein Grund,einen Teil der Familie im Ausland unterzubringen. Nach 1979
fanden Armenier keine Beschäftigung mehr in Staatsdiensten, doch dieser Ausschluss ist in jüngster Zeit in einigen
Fällen durchbrochen worden, wie der Besitzer eines Souvenirladens bei der armenischen Kathedrale sagt. Am meisten
macht ihm und vielen anderen armenischen Händlern zu schaffen, dass der Tourismus in der Folge der Attentate in den
USA um 90 Prozent eingebrochen ist.
Isfahan ist das Herz der armenischen Präsenz in Iran, seit Schah Abbas I.
1604 rund 100 000 Handwerker aus ihrer Heimat herschaffen liess. Die Armenier brauchte der Safawiden-Herrscher,
um seine Hauptstadt in dem Glanz aufzubauen, von dem die prächtigen Gebäude aus jener Zeit noch heute zeugen.
Abbas siedelte die Armenier weit abseits auf der anderen Seite des Flusses Sayandeh an, in Jolfa. Hier druckten sie 1638
das erste Buch im ganzen Mittleren Osten, wie Bibliothekar Minassian stolz hervorhebt, und er verweist auf 800 weitere
Bände, die seither in armenischer Sprache hier veröffentlicht worden sind. Die modernen Stadtteile Isfahans haben
das Armenierquartier längst umwickelt.
Isfahans liberaler Freitagsprediger
Isfahan, dessen Bewohner sich gerne als fortschrittlich und
widerborstig geben, ist für die herrschenden Mullahs kein einfaches Pflaster. Auf dem grandiosen Platz, den Schah
Abbas bauen liess, lehren uns zwei Lehrerinnen den Satz: «Omidwarim ke mullaha berand - Wir hoffen, dass die
Mullahs gehen!» Und wie ein Refrain rufen sie uns herzhaft lachend nach: «Ke berand - Dass sie
verschwinden!» Die Kopfseite des nun «Imam-Platz» heissenden Zentrums Isfahans bildet die Imam-Moschee,
die frühere Schah-Moschee, in der jeweils die Freitagspredigt gehalten wird.
Die herrschenden Ayatollahs haben
verfügt, dass in jeder Stadt die Freitagspredigten nur in einer einzigen Moschee gehalten werden dürfen, um
ihre politischen Botschaften besser steuern zu können. Der Freitagsprediger in Isfahan, Ayatollah Taheri, hat sich
jedoch nicht als willfährigerNachprediger erwiesen, sondern gilt als Reformer; weil er als ältester
Freitagsprediger des Landes hohes Prestige besitzt, kann er von den Konservativen nicht einfach entfernt werden. Auf der
anderen Seite des Flusses aber lassen die Mullahs für horrendes Geld eine gigantische neue Moschee errichten, wo in
Zukunft die Freitagspredigten gehalten werden sollen. Wenn man von religiösen Problemen spreche, dürfe man nicht
vergessen, dass auch viele Muslime nach der Machtergreifung Khomeinys Schwierigkeiten bekommen hätten, meint ein
Anhänger der Reformer.
Die Synagoge am Palästina-Platz
Der Palästina-Platz von Isfahan wirft ein Schlaglicht auf
die Situation im Nahen Osten. Die eine Ecke des Platzes markiert eine Moschee namens al-Kuds als Referenz auf Jerusalem
und ein unabhängiges Palästina. Quer gegenüber liegt die Davids-Synagoge, das wichtigste der zwanzig
jüdischen Gotteshäuser der Stadt. Die Demonstrationen gegen die israelische Repression in den besetzten Gebieten
fanden aber nicht hier statt, sondern auf dem Imam-Platz. Die Juden scheint man nicht persönlich für die
Unterdrückung der Palästinenser verantwortlich zu machen. Ein Mann aus der Tourismusbranche meint, dass die
Iraner als tolerante Menschen sehr wohl zwischen der Propaganda des Regimes und der Unbescholtenheit der jüdischen
Einwohner zu unterscheiden wüssten, die ja schon zu der Zeit, als der Achämeniden-Herrscher Kyros die Juden in
Babylon befreit hatte, in Isfahan angesiedelt worden sind.
Die Synagoge ist gänzlich unbewacht, und ein
Methusalem mit buschigem weissem Bart stösst das Tor auf. Drinnen sind gerade einige Mitglieder der rund
1500-köpfigen jüdischen Gemeinde mit dem Lesen der Schriften beschäftigt. Darunter befinden sich auch
jüngere Männer und Kinder. Wer nach Israel habe auswandern wollen, habe dies längstens getan, sagt ein
junger Mann. Und eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht ruft: «Dies ist unser Land, wir sind Iraner!» Ihre
Worte scheinen im Einklang mit dem Gouverneur der Provinz Isfahan zu stehen, der in einem Gespräch gesagt hat:
«Hier ist das Leben viel bequemer als in Israel.» Dass hinter der Fassade doch nicht nur eitel Wonne
herrscht, zeigte sich vor zwei Jahren in Shiraz, als einer Gruppe von Juden der Prozess gemacht wurde, weil sie angeblich
den nahe gelegenen Atommeiler von Bushehr für Israel ausspioniert haben. Nach einem Appellationsverfahren blieb
schliesslich nur noch der Vorwurf der Kollaboration mit Israel hängen, aber das reichte zu einer Verurteilung von
zehn Juden (und zwei Muslimen) zu Haftstrafen von bis zu neun Jahren. Die Einschüchterung der jüdischen
Gemeinde ist in Shiraz heute deutlich spürbar. Der Verwalter der Rabbi-Zadeh-Synagoge, des einzigen von dreizehn
jüdischen Gotteshäusern, das täglich geöffnet ist, will sich ohne Bewilligung des
Informationsministeriums nicht zum Prozess äussern. Als einziger Kommentar ist dem Mann zu entlocken, dass die
Verurteilten unschuldig seien.
Aus jüdischen Kreisen ist in Erfahrung zu bringen, dass die vier Inhaftierten mit
den niedrigstenStrafen inzwischen freigekommen sind; in spätestens fünf Jahren soll der letzte Gefangene auf
freiem Fuss sein. Den Häftlingen wird pro Monat ein jeweils dreistündiger Besuch bei ihren Familien zugestanden,
beaufsichtigt von drei Wärtern. Heute leben in Shiraz rund 4000 bis 5000 Juden; dem Vernehmen nach hat die
Auswanderung seit dem Prozess zugenommen. Von befragten Juden ist nur die eine stereotype Antwort zu hören, dass
sie sich in Iran wohl fühlten und nicht den geringsten Schwierigkeiten ausgesetzt seien.
Auf den Abfall vom Islam steht der Tod
Offiziell dürfen alle Angehörigen von Religionen,
denen der Islam ebenfalls den Besitz eines «heiligen Buches» attestiert, ihren Glauben frei praktizieren. Dazu
zählen in Iran auch die Zoroastrier, die Anhänger der altpersischen Lehre Zarathustras, die auch Parsen genannt
werden. In einigen Städten unterhalten die schätzungsweise 30 000 Zoroastrier sogenannte Feuertempel, in
denen das heilige Feuer nie erlöschen darf. In einem Feuertempel treffen wir einen jungen Muslim, der
gefühlsmässige Bande zur Tochter eines Zoroastriers entwickelt hat. Er studiere bloss einige Schriften dieses
Glaubens, versichert er. Ein Übertritt zu einer anderen Konfession hat für einen Muslim in Iran die
Todesstrafe zur Folge. Der einzige Weg, der zur Ehe mit der schönen Zoroastriertochter führen könnte,
wäre ihr Übertritt zum Islam.
Jegliche Missionstätigkeit ist in Iran strikte verboten. Am
empfindlichsten reagieren die religiösen Autoritäten auf die Bahai, die als Häretiker betrachtet werden und
nach dem Sieg Khomeinys am grausamsten verfolgt worden sind. Niemand schneidet gerne dieses Thema an; jene Bahai, die
seit ihrer Geburt dieser Glaubensrichtung angehören, werden heute angeblich in Ruhe gelassen. Wer diesen oder einen
anderen Glauben jedoch neu und offen annimmt, bekommt die Härte der Scharia am eigenen Leib zu spüren.
Neue Zürcher Zeitung, 25. Mai 2002
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