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Jürgen Habermas trifft im Iran auf eine gesprächsbereite Gesellschaft

Das Bild von einer verstummten Gesellschaft paßt nicht: Eindrücke von einer Reise nach Iran / Ein Gespräch mit Jürgen Habermas

In Iran gibt es seit vielen Jahren ein lebhaftes Interesse an deutscher Philosophie. Unter den zeitgenössischen Denkern ist Jürgen Habermas in den vergangenen Jahrzehnten breit rezipiert worden. Nun hat der Philosoph auf Einladung des vom iranischen Präsidenten Mohammad Chatami gegründeten "Zentrums für den Dialog der Zivilisationen" eine Woche in Iran verbracht.
Dieser Zeitung beantwortete Habermas nach seiner Rückkehr Fragen zu seiner Reise. Dabei zeigte er sich erstaunt, wie "ungezwungen" bei zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Gesprächen mit Philosophen, Soziologen, Journalisten und Künstlern über das theokratische System gestritten wurde. In Iran war Habermas vor großem Publikum an einem für die Islamische Republik symbolischen Ort aufgetreten: An der Universität Teheran, wo jeden Freitag mittag ein vom religiösen Führer autorisierter Ajatollah das berühmte Freitagsgebet abhält, sprach er über die "Säkularisierung in den postsäkularen Gesellschaften des Westens". Der Andrang war so groß, daß sich die Studenten vor dem Audimax drängten und lebhaft diskutierten. Die iranische Presse nahm die Vorträge auf und schlug die Brücke zur aktuellen politischen Lage. Kritik kam lediglich von der reformfeindlichen Presse, die unter Zuhilfenahme früherer Stellungnahmen von Jürgen Habermas zu Salman Rushdie die Gastgeber unter Beschuß nahm, allen voran den wegen seiner Liberalisierungspolitik vor anderthalb Jahren entlassenen ehemaligen Kulturminister Ataollah Mohadscherani.

cho. Was hat Sie bewogen, gerade zu diesem Zeitpunkt nach Iran zu reisen?

Seit den ersten Kontakten sind sieben Jahre vergangen. Im vorigen Herbst hatten mich schließlich die Gespräche mit iranischen Kollegen davon überzeugt, daß ich bei meinem Gastgeber an der richtigen Adresse war. Ataollah Mohadscherani, der ehemalige Kultusminister und Vertraute des Präsidenten Mohammad Chatami, hat während seiner Amtszeit einen zähen Kampf um die Liberalisierung der Presse geführt. "Der Westen interessiert sich für unsere Köpfe nur, wenn sie rollen", hat der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Machfus einmal gesagt.

Welche Erwartungen hatten Sie, welche Bedenken?

Niemand läßt sich gerne von den falschen Leuten als Aushängeschild für eine falsche Sache benutzen. Aus Chicago kam von einem meiner iranischen Studenten eine besorgte E-Mail. Die Liste mit Namen von politischen Gefangenen wurde immer länger. Von der Frau des seit langem inhaftierten Chalil Rostamchani erhielt ich einen Brief. Das deutsche PEN-Zentrum teilte mir mit, daß der siebzigjährige Journalist Siamak Pourzand soeben zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden sei.

Haben sich die Befürchtungen bestätigt?

Natürlich gibt es an der rechtlichen Diskriminierung der Frauen, an der politischen Verfolgung von Oppositionellen und, wenn das State Department denn recht hat, an der Unterstützung der Hizbullah nichts zu beschönigen. Aber irritierend waren auf den ersten Blick auch die überlebensgroßen Transparente mit den Köpfen und Sprüchen der beiden geistlichen Revolutionsführer, die irgendwie an Honeckers DDR erinnern. Einen etwas anderen Stellenwert haben die Poster mit den bärtigen Gesichtern der "Märtyrer", die in den Straßen von Teheran und überall auf dem Lande an die Gefallenen des langen und verlustreichen Krieges gegen den Irak erinnern. Im Kulturzentrum, in das wir unangemeldet hineinplatzten, wurde eine schreiende Szene aus dem Leben des Propheten - Mohammed vor Mekka - aufgeführt: So habe ich mir immer die Oberammergauer Passionsspiele vorgestellt. Diese ersten Eindrücke machen einen vielleicht stutzig. Aber die Vorurteile, mit denen man anreist, werden durch die Normalität eines Alltags, dessen Eigensinn sich in jedem Regime durchsetzt, nicht nur differenziert. Das Bild einer zentral gesteuerten, geheimdienstlich kontrollierten, einer verstummten Gesellschaft paßt einfach nicht - jedenfalls nicht zu den Eindrücken, die ich aus meinen Begegnungen mit Intellektuellen, mit Bürgern einer uneingeschüchterten, spontan und selbstbewußt auftretenden Großstadtbevölkerung gewonnen habe. Der fragmentierte Machtapparat wird doch wohl in die Eigendynamik einer bewegten, in viele Faktionen zersplitterten Gesellschaft eher selbst hineingezogen, als daß er sie noch unter Kontrolle hätte. Offenbar wächst die Unruhe in einer vom Zögern der Reformer enttäuschten Bevölkerung. Ein junger politikwissenschaftlicher Kollege, den ich in einem säkularistischen und entschieden amerikafreundlichen Kreis kennenlernte, gestand, daß er von Chicago, wo er von Zeit zu Zeit unterrichtet, trotz aller Schwierigkeiten, die ihn erwarten, gerne nach Hause zurückkehre. In Iran gebe es wenigstens eine politische Öffentlichkeit mit leidenschaftlichen Auseinandersetzungen.

Wo stießen Sie in Ihren Gesprächen auf Tabus, Blockaden, Grenzen?

Die engagierten und gut informierten Gesprächspartner haben mich ohne große Umstände in substantielle und aufregende Diskussionen verwickelt. Auch in politischer Hinsicht habe ich keine auffällige Zurückhaltung erkennen können. Gelegentlich haben wir ebenso über das Existenzrecht Israels wie über die Namen der eingesperrten Regimekritiker gesprochen. Die eigenen Grenzen sieht man ja nicht. Bei den Gesprächspartnern habe ich so etwas wie eine Blockade nur einmal erlebt. Ein junger Mullah, der in Montreal promoviert hatte, war aus Qom, der alten Pilgerstadt angereist, wo sich die zentrale Hochschule für die Ausbildung der schiitischen Geistlichkeit befindet. Zum vereinbarten Termin erschien er mit seinem kleinen Sohn, drei Glaubensbrüdern (darunter einem Amerikaner) und einer interessanten Frage. Diese bezog sich auf meinen Vorschlag, semantische Gehalte, die in religiöser Sprache aufbewahrt sind, in eine philosophische, also weltliche Sprache zu übersetzen. Das sei ja schön und gut. Aber würde damit nicht die Welt selbst in ein religiöses Licht eingetaucht? Das milde Gesprächsklima schlug um, als ich ihm meinerseits eine Frage stellte. Warum will sich der Islam nicht allein auf das eigene Medium des Wortes verlassen, warum verzichtet er nicht auf politische Zwangsmittel? Der sanft-asketische Gast mir gegenüber reagierte auf die Bitte um eine religiöse Begründung ziemlich schroff. Das war so ein Augenblick, wo sich für eine Sekunde der Schleier über einem dogmatischen Felsen aus Granit zu heben schien. Am Ende des Gesprächs überreichte mir der alte Ajatollah, der seinem Schüler schweigend zugehört hatte, mit begütigender Geste ein Buch. Er hat ein Lehrbuch verfaßt, das von einem "Center for the Preservation of Ancient Religious Texts" in Amerika ins Englische übersetzt worden ist. Später stellte ich fest, daß es sich tatsächlich wie ein mittelalterlicher Text liest. Beim anschließenden Gespräch machte einer der philosophischen Kollegen den Versuch, die Begründung nachzureichen, die der Mullah schuldig geblieben war. Er stellte Max Webers Konzept des okzidentalen Rationalismus vom Kopf, wie er sagte, auf die Füße: Man sehe doch heute, daß sich die Entfaltung der europäischen Moderne im Vergleich mit den anderen großen Kulturen als der eigentliche Sonderweg darstelle. Über dessen pathologische Windungen müsse man eher nachdenken als über die des Islam. Edward Said in reverse? Zu unserer verzerrten Wahrnehmung des Orients gibt es dort auch das Gegenstück eines "Okzidentalismus". Aber diese Geisteshaltung ist eher untypisch für die aufgeschlossene akademische Situation, der ich sonst in Teheran begegnet bin.

Wie werden die philosophischen und soziologischen Debatten im Westen für die religiös-philosophischen Debatten in Iran rezipiert?

Wenn man mit kleinem geistigen Gepäck von Westen nach Osten reist, tritt man in die übliche Asymmetrie der Verständigungsverhältnisse, die für uns die Rolle der Barbaren bereithalten: Sie wissen mehr über uns als wir über sie. Die Soziologen, die ich traf, sind meistens in Frankreich ausgebildet worden, folgen aber heute den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. In der Philosophie scheinen Kant und die angelsächsischen Analytiker zunehmend Interesse zu finden, ebenso die zeitgenössischen Ansätze der politischen Philosophie. Aber die Impulse zu den öffentlichkeitswirksamen intellektuellen Auseinandersetzungen gehen von anderen aus. Während der neunziger Jahre waren Heidegger und Popper die Stichwortgeber für eine Debatte zwischen Reza Davari Ardakani auf der einen, Abdolkarim Sorusch auf der anderen Seite. Davari ist heute Präsident der Akademie der Wissenschaften und wird den "Postmodernisten" zugerechnet. Diese haben vom späten Heidegger vor allem die Analyse des "Wesens der Technik" aufgenommen und mit der einheimischen Kritik an der westlichen Moderne verbunden. Der Gegenspieler Sorusch, der sich gerade zu einem Gastsemester in Harvard aufhält, neigt zwar persönlich einer bestimmten mystischen Strömung des Islam zu, vertritt aber als Popperianer entschieden eine kognitive Arbeitsteilung zwischen Religion und Wissenschaft. Wenn ich es recht begriffen habe, ist Davari im Verlaufe jenes Disputs zu einem der philosophischen Wortführer der schiitischen Orthodoxie aufgestiegen, während Sorusch nach wie vor, aber mit schwindendem Einfluß für eine institutionelle Trennung von Politik und geistlicher Macht eintritt. Bei der ersten offiziellen Begegnung war ich froh, als aus dem Nebel der fremden Laute ein mir bekannter Name auftauchte: Davari meldete sich zu Wort. Der in der abendländischen Metaphysik entwickelte Begriff der Vernunft sei zu eng, als daß er intuitiven Erkenntnisfähigkeiten gerecht werden könnte, die über das bloß Rationale hinausreichen. Das gibt Anlaß zum Streit, ob man "Vernunft" ohne weiteres mit "instrumenteller Vernunft" gleichsetzen darf. Die Diskussion nimmt eine Wendung ins Aktuelle, als ein mit Rawls vertrauter Kollege das Gespräch auf die Menschenrechte lenkt: Dürfen diese trotz ihrer okzidentalen Entstehungsgeschichte universale Geltung beanspruchen? Es ist der Popper-Übersetzer, der die Frage stellt und mir eine Kantische Antwort in den Mund legt. So schien sich unversehens eine alte Konstellation der von Popper und Heidegger inspirierten Auseinandersetzung wiederhergestellt zu haben.

Sind die Probleme, die heute in Iran diskutiert werden - das Verhältnis von Staat und Religion, Gesellschaft und Religion -, nicht in Europa durch Aufklärung und Säkularismus, durch Verfassungen, die Glaubensfreiheit garantieren, gelöst worden?

Auf diese Frage hin hatte ich meine beiden öffentlichen Vorträge zugespitzt. Ich war dann überrascht, wie ungezwungen in einer breiteren akademischen Öffentlichkeit über Grundlagen des theokratischen Regimes gestritten wurde.

Worum ging es?

In Iran gewährt die Obrigkeit allein den kleinen zoroastrischen, jüdischen und christlichen Minderheiten, also den "Vorgängern" des Islam, die öffentliche Ausübung ihrer Religion, nicht aber beispielsweise den Bahai. Gleichzeitig oktroyiert sie allen, auch den nichtislamischen und den ungläubigen Bürgern, die vom islamischen Recht vorgeschriebene Lebensform. Das provoziert die Frage, ob die Religion nicht auch dann ihre lebensgestaltende Kraft bewahren kann, wenn sie auf politische Macht verzichtet - wenn sie sich unmittelbar an das Gewissen des einzelnen, freiwillig assoziierten Gemeindemitglieds adressiert und ihren politischen Einfluß nur noch indirekt, über das Stimmengewirr einer liberalen Öffentlichkeit ausübt. Die Diskussion drehte sich vor allem um Kontextabhängigkeit oder Übertragbarkeit des europäischen Modells. Ist der grundrechtlich gesicherte religiöse Pluralismus nicht doch ein spezifisch westliches Phänomen? Ist er an seine historischen Entstehungsbedingungen gebunden, oder bietet er eine plausible Lösung für ein Problem, mit dem heute zunehmend alle Gesellschaften zu tun bekommen? Müssen andere Kulturen nicht wenigstens eine äquivalente Lösung finden?

Bei Gesprächen in Iran glaubt man sich bisweilen in die Zeit der Reformation zurückversetzt. Oder sind diese Fragestellungen auch für Europa noch aktuell?

Das Reflexivwerden eines religiösen Bewußtseins, das sich innerhalb des differenzierten Gehäuses der Moderne behauptet, ist ein Prozeß, der sich von innen heraus vollziehen muß. Wie der Islam eine solche kognitive Anpassung leistet, berührt uns in Europa schon deshalb, weil wir mit unseren islamischen Gemeinden nicht nur einen wackeligen Kompromiß finden wollen. Alle Staatsbürger sollen ja die Prinzipien der Verfassung aus eigener Einsicht akzeptieren können. Ich denke, daß die politische Bedeutung der theologischen Auseinandersetzungen innerhalb des Islam kaum zu überschätzen ist. Heute hat ein Geistlicher wie Mohammad Modschtahed Schabestari die Rolle des prominenten Kritikers übernommen, die in den neunziger Jahren ein weltlicher Philosoph wie Sorusch gespielt hat. Schabestari war übrigens einige Jahre in Hamburg und spricht fließend Deutsch. Er steht in der hermeneutischen Tradition, betrachtet den einzelnen Gläubigen als Interpreten der Offenbarung und bringt protestantisch klingende Argumente gegen die herrschende Orthodoxie vor. Jedenfalls betont er die moderne Subjektivität als Ort der religiösen Innerlichkeit. Sein Verständnis der dialektischen Beziehung zwischen Glauben und Wissen soll die islamische Theologie gegenüber den Humanwissenschaften und der zeitgenössischen Philosophie öffnen. Vor allem hat er einen hermeneutisch aufgeklärten Begriff von religiöser Überlieferung, der es ihm erlaubt, den Wesensgehalt der prophetischen Lehre abstrakter zu fassen und von den konventionellen Zügen einer historisch gewordenen Lebensform zu unterscheiden.

Sie sind in Iran auch mit den Vordenkern der Reformer um Präsident Chatami zusammengekommen. Sind die Reformer nach Ihrer Einschätzung bereit, den in der iranischen Verfassung angelegten Konflikt zwischen Demokratie und Theokratie im Zweifelsfall im Sinne der Demokratie zu überwinden?

Mohsen Kadivar ist ein jüngerer Mullah, der ins Gefängnis mußte, nachdem er 1998 eine schiitische Kritik an den rechtlichen Grundlagen von Chomeinis Regime veröffentlicht hatte. Bei ihm traf ich die Gruppe, die Sie erwähnen: neben Herrn Schabestari auch Saied Hasdscharian, der von einem fast zwei Jahre zurückliegenden Attentat körperlich noch schwer gezeichnet ist. In diesem Kreis haben wir über das Thema gesprochen. Wie weit sollen die Reformen gehen? Wie ernst ist es den Reformern mit dem Rückzug der religiösen Lehre und der religiösen Gemeinschaft aus der Fusion mit der staatlichen Gewalt? Aber mehr als eine pragmatische Auskunft habe ich am Ende nicht bekommen: Man wolle Schritt für Schritt vorangehen und aus dem Prozeß selbst lernen. Auch im Verlaufe dieser bei weitem wichtigsten Diskussion ist mir nicht klargeworden, wie sich die Reformer den "Dritten Weg" einer Synthese aus Ost und West vorstellen. Aus anderen Gesprächen kannte ich die politische Mentalität dieser enttäuschten Revolutionäre der ersten Stunde schon ein bißchen. Das als korrupt wahrgenommene, technokratische und der Bevölkerung ganz entfremdete Pahlavi-Regime hatte schon vor 1978/79 nur noch die religiöse Tradition als die einzige moralisch unbeschädigte Kraft übriggelassen. Auch der Marxismus war der Denkungsart und der Kultur des Westens verhaftet geblieben. Die jungen Leute wollten damals eine befreiende Alternative, und bekommen haben sie eine geistliche Despotie in Gestalt einer undemokratischen Doppelherrschaft. Die Verbindung des anfänglichen Emanzipationspathos mit dem Namen Chomeini mag für uns obszön klingen, aber im Motivationshalt der einstigen Revolutionäre ist sie wohl eine prägende biographische Erfahrung. Die Reformer wollen, so ist mein Eindruck, keine Renegaten werden. Viele sind Kritiker und Repräsentanten des Regimes in einem. Sie möchten ihre Reformen - die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, den Aufbau einer effektiven Verwaltung, eine endogene Ankurbelung des ökonomischen Wachstums bei dosierter Öffnung gegenüber dem Weltmarkt - noch als eine korrigierende Fortsetzung des Laufs der Revolution selbst verstehen können. Insoweit sind auch die Reformer verfassungsloyal. Das hatte der junge Kollege, der als Sohn des Ajatollah Beheschti in Deutschland zur Schule gegangen ist, mit dem Satz ausdrücken wollen: Es wird keine Revolution in der Revolution geben.

Kann die iranische Gesellschaft diese Widersprüche lösen?

Das weiß natürlich niemand. Man müßte beispielsweise genauer wissen, was in den Köpfen der jungen, vor allem der akademisch gebildeten Frauen vorgeht. Mehr als die Hälfte der Studenten sind heute schon Frauen. Wie viele von ihnen würden ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit ablegen, wenn sie es dürften? Steckt in diesen Köpfen ein Sprengsatz, den das Regime der greisen Ajatollahs mehr zu fürchten hat als alles andere? Die eher unpolitische Fremdenführerin, die mich nach Persepolis begleitete, hat gerade ihr Studium abgeschlossen. Sie spricht Englisch, interessiert sich für Freud und Jung, liest zeitgenössische amerikanische und portugiesische Romane in Übersetzung. Sie ist empört über die Situation einer verheirateten Freundin, die an einen üblen Typen geraten ist, von diesem aber die Einwilligung zur Scheidung nicht erhält. Das Gericht rede ihr bloß gut zu, es noch einmal zu versuchen. Nein, die Trennung der Geschlechter in der Moschee stört sie nicht. Aber eine bloß konventionelle Glaubenspraxis weist sie weit von sich. Wenn ein tiefes religiöses Gefühl da ist, zählen ein Christ oder ein Jude ebensoviel wie ein Muslim. Sie ist sich auch ganz sicher: Seit der ersten Wahl von Chatami haben sich die "kulturellen Beziehungen" - sie meint den Bewegungsspielraum ihres privaten Lebens - verändert. Wie zur Bestätigung zeigt sie auf ihr Kopftuch: Es ist ein wenig zurückgeschoben, so daß die Haare eine Handbreit hervortreten.

Die Fragen stellte Christiane Hoffmann.

FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), 6/13/02, PAGE 47


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