20. August 2002, 02:09, Neue Zürcher Zeitung
Spirituell geprägter Urbanismus
Naturgesetz und Symbol
Mit Planungsvorschlägen für zahlreiche Städte zwischen Tel Aviv, dem indischen Pinjaur und dem schottischen Dunfermline befasst,
verbreitete der rastlose Gelehrte seine Ideen zu gerne mündlich oder in Aufsätzen und Berichten, als dass er sein Gedankengebäude
in einem Grundlagenwerk hätte darstellen mögen. Volker Welter legt daher in seinem Buch legitimerweise den Schwerpunkt darauf,
aus Geddes' verstreuten Publikationen deren theoretische Basis herauszufiltern und anschliessend ins Umfeld verwandter
Zeitphänomene einzuordnen. Das geschieht auf solide und übersichtliche Weise - angefangen bei dem Konzept der Region, welches
Geddes aus Arbeiten des französischen Botanikers Charles Flahault ableitete, und bei der vom Soziologen Frédéric Le Play
geborgten Begriffstriade «lieu - travail - famille», die dem Schotten in den Übersetzungen «place - work - folk» bzw.
«environment - function - organism» zur Untersuchung menschlichen Einwirkens auf die Lebenswelt diente. Wo Geddes hingegen meint,
dass eine Stadt nur dann in eine neue Phase ihrer Entwicklung eintreten könne, wenn sie dabei einer allgemein gültigen Evolution
von Städten als solcher folge, bezieht er sich auf das «biogenetische Grundgesetz», das der Zoologe Ernst Haeckel in Jena
postulierte.
Aber Geddes' stets nach symmetrischer Organisation strebendes Denken, das er in komplexen grafischen Schemata fixierte,
erschöpfte sich keineswegs bei den Naturwissenschaften. Unter anderem die griechische Polis und Platos «Republik» schwebten ihm
vor, als er sein Ideal städtischer Kultur entwarf. Vier Klassen miteinander kooperierender Bürger - die sogenannten «sozialen
Typen» - müssen laut ihm danach streben, von der Ebene blosser Handlungen und der Aufnahme sowie Wiedergabe von Tatsachen über
das Reich der Gedanken bzw. Träume zum Niveau sinnstiftender Taten vorzudringen und so ihre Stadt («town») zur wahren «city» zu
machen. Als deren Kern fordert er eine Akropolis mit kulturellen Institutionen - ein Gedanke, der auf Bruno Tauts «Stadtkrone»
vorausweist. Geddes' spirituelle Interessen kulminierten in der nicht realisierten Vision eines Bahai-Tempels, der in der
indischen Stadt Allahabad der Lehre vom Weltfrieden und von der Einheit aller Religionen Ausdruck verleihen sollte. Man darf
vermuten, dass sein Glaube an die Notwendigkeit metaphysisch orientierter Stadtzentren nicht zuletzt deshalb so folgenarm blieb,
weil er keine über das Zeittypische hinausgehende Form für die entsprechenden Gebäude und Gärten finden konnte.
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